„Frau Gaß, welche Note bekomme ich im Zeugnis?“ „Frau Gaß, welche Noten hatte ich denn?“ „Frau Gaß, wie kann ich mich jetzt noch verbessern?“ etc, etc… Diese Fragen kennt wohl jede Lehrkraft am Ende des Schuljahres zuhauf. Mich überkommen regelmäßig am Ende des Schuljahres zwei Gefühle: Mitleid und Ärger.
Zuerst verspüre ich einen aufkommenden Ärger, denn das gesamte Schuljahr über stehe ich für die Schüler*innen zur Verfügung, bereite für sie Material und Themen vor, immer so, dass sie sich einbringen können. Ich denke mir etliche Angebote aus, die sie während des laufenden Schuljahres nicht wahrnehmen. Bitte nicht falsch verstehen: Hier geht es nicht um mich, denn ich sehe es als meine Arbeit an, Angebote für Schüler*innen passend zu erstellen. Es ist viel mehr das regelmäßige „kurz vor knapp“. Es fällt ihnen dann ein: Oh, ich muss JETZT (oder überhaupt) etwas tun, um eine bestimmte Note zu erlangen. Es geht ihnen eben nicht um das Lernen an sich, sondern nur um die Note am Ende. Wenn eine solche Leistungserbringung unmittelbar mit dem Erlangen einer besseren Note zum Zeugnis hin zusammenfällt, gewähre ich meinen Schüler*innen diese Möglichkeiten nicht mehr. Das klingt hart! Ich persönlich sehe aber im Zulassen solcher Möglichkeiten ein reines punktuelles Abliefern, weil es um eine einzige Ziffer geht – nämlich die im Zeugnis, und die muss stimmen, unabhängig davon, was ich das gesamte Jahr über geleistet habe.
Mein zweites Gefühl, was sich neben dem Ärger breitmacht – und wesentlich ausgeprägter ist- ist Mitleid. Mit tun die Schüler*innen jedes Jahr unendlich leid, weil sie einen solchen Druck, kurz bevor es Zeugnisse gibt, verspüren, am Ende, wo sowieso jede/r im Schulwesen völlig gestresst und mit den Kräften am Ende ist, noch einmal eins drauf zu setzen, um am Ende eine bestimmte Zahl schwarz auf weiß gedruckt zu sehen. Wie furchtbar! Jugendliche definieren sich über ein Zeugnis, was nichts, aber rein gar nichts über ihre Persönlichkeit und ihre life skills aussagt. Im Gegenteil: Es sagt etwas darüber aus, was man zu einem bestimmten Zeitpunkt zu einem bestimmten (aufgezwungenen) Thema, mit mehreren gleichzeitig zu ein und demselben Thema im Gleichschritt bewältigt hat. Ich sage bewusst nicht „gelernt“ hat. Hier kann man eine neue Debatte anstoßen, nämlich was heißt eigentlich „Lernen“? Im nächsten Heft der Zeitschrift „Klasse leiten“ haben wir uns damit ausgiebig beschäftigt und einige interessante Autor*innen gefunden, die mit Beiträgen ihre Sichtweise auf „Lernen“ kundtun.
Ich merke schon wieder, wie mich beim Schreiben diese Gefühle überkommen… Deshalb der Aufruf an Eltern, Kolleg*innen und an alle, die hoffen, dass sich im Schulsystem in nächster Zeit viel mehr ändern wird: Bitte zeigt den Jugendlichen, dass sie mehr als eine Note am Ende eines Schuljahres sind! Die Influencerin und Lehrerin Saskia Niechziel (www.liniert-kariert.de) hat vor ein paar Tagen die Vorlage eines Stärken-Zeugnisses geteilt: Schreibt den Jugendlichen ein solches zweites Zeugnis! Ich selbst spreche gerne am Ende eines Schuljahres mit den einzelnen Personen, um ihnen zu sagen, welche Stärken und Talente sie haben und wie sich mich beeindruckt haben. Das ein oder andere Rührungs-Tränchen ist dabei schon geflossen – was wiederum zeigt, wie nötig es ist den positiven Blick anzuwenden und vor allem auszusprechen.
Meinen 10. Klässlern zum Abschluss ihrer Sekundarstufe werde ich diesen Beitrag („Mach es wie der Pinguin! Finde dein Element!“) von Eckard von Hirschhausen mit auf den Weg geben: https://www.youtube.com/watch?v=tOxywMaE8GY
Inspirierend ist es aber für jede Altersgruppe! 😊
Viele Grüße
Melissa